Langzeitstudie

Wie Musik und Erziehung zusammen passen erklärt die Studie von Hans Günther Bastian.

Musik(erziehung) und ihre Wirkung

Von Hans Günther Bastian

Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen

(Schott Musik International) Mainz 2000, unter Mitarbeit von A. Kormann, R. Hafen und M. Koch

Die Studie „Musik(erziehung) und ihre Wirkung“ dokumentiert, analysiert und interpretiert quantitative und qualitative Daten des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (Berlin) geförderten Projektes „Zum Einfluss von erweiterter Musikerziehung auf die allgemeine und individuelle Entwicklung von Kindern“. Die Untersuchung wurde zwischen 1992 und 1998 im Rahmen einer sechsjährigen Langzeitstudie an Berliner Grundschulen mit musikbetonten Zügen (2 stündiger Musikunterricht + Erlernen eines Instrumentes + Musizieren im Ensemble) und an zwei Vergleichsschulen (konventioneller einstündiger Musikunterrricht) durchgeführt. Die Evaluation der Entwicklung ausgewählter Persönlichkeitsmerkmale der Kinder (Modellgruppe-MG vs. Kontrollgruppe-KG) stand unter dem Fokus der Hypothesen zu positiven Transfereffekten von „erweiterter“ Musikerziehung. Wichtige Ergebnisse der 600 Seiten umfassenden Studie (Datenanhang auf CD-ROM) hier in Auswahl:

Soziale Kompetenz und soziale Reflexionsfähigkeit

Seit Beginn des Instrumentlernens und gemeinsamen Musizierens ist der Anteil der Kinder, die im Klassenverband keine einzige Positivwahl erhalten (Soziogramm: Den Schüler mag ich) in der KG über die gesamte Grundschulzeit hinweg kontinuierlich und teilweise doppelt so hoch wie in den Musik-Modellklassen. Dies bedeutet, dass es in musikbetonten Grundschulen weniger häufig völlig ausgegrenzte Schüler gibt.

Sensationell sind die Ergebnisse im Ablehnungsbereich: Der Anteil der Kinder, die keine einzige(!) Ablehnung erhalten (Den Schüler mag ich nicht), ist in der MG über alle Messzeitpunkte signifikant höher als in der KG und zwar im allgemeinen doppelt so hoch! (nach dem 4. Schuljahr z.B. erhalten 62% der Kinder in der MG keine einzige Ablehnung vs. 34% in der KG).

Auch die Zahl der mehrfachen Ablehnungen von Schülern ist in den Vergleichsklassen ohne erweiterte Musikerziehung deutlich höher als in musikbetonten Klassen. Demnach gibt in der KG weitaus mehr abgelehnte und schwerer integrierbare Kinder als in der MG.

Musizierende Kinder erwerben sich eine signifikant erfolgreichere Soziabilität als nicht-musizierende Kinder. Sie verfügen über Vorteile in einer sozialen Urteilsfähigkeit, aus Erfahrungen zu lernen und in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu denken, Situationen des Lebensalltags adäquat zu erfassen und zu beurteilen.

Daraus folgt: Erweiterte Musikerziehung ist „eine“ soziale Chance in der Pro- und Metaphylaxe von Gewalt und Aggression unter Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft. Setzen wir gegen die physische Gewalt die psychische Macht der Musik.

Intelligenz

Bereits für 6-7jährige Kinder stellen wir einen monoton-steigenden Zusammenhang zwischen musikalischer Begabung und Intelligenz fest. Mit höherem Musikalitätsscore steigt auch der IQ-Wert. Damit bestätigen sich für eine frühe Altersstufe solche Forschungsergebnisse, die einen Zusammenhang von Musikalität und Intelligenz in den Randbereichen der Streuung des Intelligenzniveaus konstatieren.

Beide Schülergruppen entwickeln sich — bezogen auf ihre IQ-Mittelwerte nach einem kulturunabhängigen Intelligenztest — in den ersten Jahren ihrer Grundschulzeit zunächst nicht sehr unterschiedlich. Nach 4 Jahren „erweiterter“ Musikerziehung kommt es jedoch zu einem signifikanten IQ-Zugewinn bei Kindern aus musikbetonten Grundschulen (IQ-Mittelwert MG 111 vs. KG 105).

Kinder aus der MG, die bereits zu Projektbeginn überdurchschnittliche IQ-Werte erreicht hatten, steigern diesen kognitiven Begabungsvorteil nochmals signifikant deutlicher als Kinder aus der KG.
Sozial benachteiligte und in ihrer kognitiven Entwicklung weniger geförderte Kinder (mit unterdurchschnittlichem IQ) profitieren von einer „erweiterten“ Musikerziehung. Sie legen über die Jahre hinweg in der Tendenz kontinuierlich zu, was für unterdurchschnittlich kognitiv begabte Kinder ohne dieses Treatment nicht bilanziert werden kann. Dies ist das sozialpolitisch relevanteste Ergebnis aller IQ-Befunde.

Daraus folgt: Bildungspolitik mit Musik(erziehung) in unseren Schulen ist die beste Sozialpolitik! Auf der Basis unserer Daten und Analysen lässt sich nachweisen, dass Musik, Musizieren und Musikerziehung langfristig gesehen die Intelligenzentwicklung von Kindern unterschiedlicher kognitiver Begabung signifikant verbessern können.

Konzentration

Erweiterte Musikerziehung führt über die Grundschulzeit hinweg zu keiner bedeutsam verbesserten Konzentrationsleistung der Kinder. Für die Gesamtstichprobe lässt sich bilanzieren, dass die Fähigkeit zur konzentrierten Wahrnehmung von der 1. bis zur 6. Klasse im Trend eher nachlässt.

In der MG gibt es jedoch weniger schwache und weniger extrem schwache Konzentrationsleistungen als in der KG. Dies bedeutet, dass „erweiterte“ Musik(erziehung) Schülern mit hohen Konzentrationsdefiziten interventiv und kompensativ helfen kann.

Musikalische Begabung / Leistung / Kreativität

Kinder der musikbetonten Grundschulen schneiden in allen musikalischen Begabungs-, Leistungs- und Kreativitätstests über die Zeit hinweg besser ab als Kinder aus der KG. Erwartungsgemäß wirken sich Transfereffekte der Musikbetonung zunächst einmal auf die optimalere „Musikalisierung“ der Kinder aus.

Die Bilanz, dass Kinder der musikbetonten Grundschulen ihren Vorsprung im Merkmal „musikalische Begabung/Leistung/Kreativität“ im Verlauf ihrer Grundschule im Vergleich zu Kindern der KG signifikant steigern können, bedeutet, dass diese „Musikalisierung“ in ein und demselben Lernprozess zugleich all jene Persönlichkeitsvorteile fördert, die diese Studie als signifikante Transfereffekte nachweisen kann. Somit liegt ein positiver, sich selbst verstärkender Zirkel vor.

Angst – Emotionale Labilität

In Abhängigkeit von der Zugehörigkeit zur MG oder KG sind die Ergebnisse insgesamt uneinheitlich. Die meisten Kinder können überdurchschnittliche Angstwerte im Verlaufe ihrer Grundschulzeit erfreulicherweise deutlich abbauen.

Schüler der KG glauben jedoch von sich selbst, über die Zeit hinweg eher ängstlicher geworden zu sein während Kinder der MG meinen, allgemeine Ängste besser abbauen zu können.

Positiv zu interpretieren ist, dass Instrumentlernen und Musizieren die Kinder trotz Übens, musikalischer Leistungserwartung und öffentlichem Musizieren nicht auffällig oder bedeutsam „neurotiziert“. Sie leiden nicht unter stärkeren Angstsymptomen.

Selbstkonzept

Selbstkonzepte der Kinder sind von „erweiterter“ Musikerziehung nicht oder kaum beeinflussbar. Die in dieser Studie replizierte Stabilität der Selbsteinschätzung steht im Einklang mit empirischen Befunden, nach denen Selbstkonzepte im Kindesalter relativ invariant sind und eine offenbar kulturell bedingte individuelle Selbst-Konsistenz haben. Veränderungen zeigen sich verstärkt erst in der sich anschließenden Phase der Pubertät.

Allgemeine Schulleistungen

Musikbetonung bedeutet an Berliner Grundschulen für alle Schüler zusätzliche Zeitinvestitionen bis in die Nachmittagsstunden, so im Erlernen eines Instrumentes, im Üben, im Ensemblespiel oder in die Vorbereitung von Aufführungen. Ein geradezu sensationelles und für Eltern/Erziehungsberechtigte wichtiges Ergebnis: Der erhebliche Zeitaufwand geht ganz eindeutig nicht zu Lasten der allgemeinen schulischen Leistungen. Zu keinem Erhebungszeitpunkt sind die Leistungen der Kinder aus der MG in den sogenannten „Hauptfächern“ schlechter als die aus der KG. Der prozentuale Anteil der Kinder mit überdurchschnittlich guten Leistungen ist in der MG oftmals höher als in der KG. Dies gilt für die Fächer Mathematik (Zahlen- und Textrechnen), Geometrie, Deutsch (Lesen, Rechtschreibung, Aufsatz) und Englisch (Diktat, Vokabular, Aufsatz).

Konsequenzen

Ergebnisse und Erkenntnisse vorliegender Grundlagenforschung verlangen eine engagiertere Kultur-, Bildungs- und Schulpolitik, die in unseren allgemeinbildenden Schulen das Fach Musik vom Rand in die Mitte rückt. Konkret muss dies heißen: Alle Schüler der allgemeinbildenden Schule erhalten in allen Bundesländern neben einem mindestens zweistündigen Musikunterricht die Chance, in der Schule ein Instrument zu erlernen und in einem Ensemble zu musizieren. Warum eigentlich?

Ein Instrument zu spielen ist eine der komplexesten menschlichen Tätigkeiten. Schon bei einfachsten Stücken werden Fähigkeiten des Intellekts (Begreifen), der Grob- und Feinmotorik (Greifen), der Emotion (Ergreifen) und der Sinne beansprucht. Die präzise Koordination der Hände und Finger auf Saiten oder Tasten verlangt eine ausgeprägte Feinmotorik und räumliches Vorstellungsvermögen. Vom Blatt-Spielen erfordert die schnelle und gleichzeitige Verarbeitung von Informationen in extremer Fülle und Dichte (Noten, Takt, Tempo, Lautstärke, Agogik, usw.). Abstraktes und komplexes Denken sind beansprucht, auch im Voraus- und Nachhören der Musik zum gerade gespielten Takt. Dies wiederum bedeutet eine Aktivität unter den extremsten Bedingungen der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Bei keinem anderen Fach, bei keiner anderen Tätigkeit muss ein Kind so viele Entscheidungen gleichzeitig treffen und diese kontinuierlich über solche Zeitstrecken hinweg abarbeiten. Diese Kombination von konstanter, kontinuierlicher Achtsamkeit und Vorausplanung bei ständig sich verändernder geistiger, psychischer und physischer Beanspruchung konstituiert eine erzieherische Erfahrung von einzigartigem und daher unverzichtbarem Wert. Und dass man im Ensemble miteinander musiziert, voneinander lernt und füreinander Verantwortung übernimmt, bedarf keiner Hervorhebung.

In summa: Musikerziehung fördert neben der Freude an der Musik und der eigenen musikalischen Begabung wichtige Persönlichkeitsmerkmale: Extraversion im ausdrucksstarken Spiel, Teamfähigkeit im Ensemblemusizieren, Gewissenhaftigkeit gegenüber dem musikalischen Werk und der Musiksozietät, emotionale Stabilität im Podiumstress der Darbietung, Intelligenz in der verstehenden und künstlerischen Interpretation eines Musikwerkes.

 

Wir sind Mitglied im Verband deutscher Musikschulen:

VdM-Logo[640x480]